Modell(e) zur Erklärung psychischer Gesundheit

 

Einleitung

Stress und psychische Gesundheit sind eng miteinander verbunden. Daher gibt es in der Psychologie sowie in anderen Wissenschaften viele theoretische Modelle, die sich mit deren Zusammenhang beschäftigen. Dabei bilden Modelle im Allgemeinen die Basis für ein wissenschaftlich fundiertes Vorgehen in der Praxis und ermöglichen das Erklären bzw. Vorhersagen komplexer Phänomene und Wechselwirkungen. Theorien tragen stets zum Verständnis komplexer Sachverhalte bei und es können später praktische Implikationen daraus abgeleitet werden (z. B. Erstellen eines Therapieplans für eine Psychotherapie). Die Modelle, um die es in diesem Blogartikel geht, stellen vereinfacht dar, wie psychische Gesundheit oder auch psychische Krankheit bedingt sind.

Vulnerabilitäts-Stress-Modell

Ein wichtiges Modell ist das Vulnerabilitäts-Stress-Modell von Wittchen und Hoyer (2020). Es nimmt an, dass die Wechselwirkung aus (1) der Vulnerabilität einer Person und (2) Stressereignissen zur Entstehung psychischer Erkrankungen (z. B. Depressionen oder Angststörungen) führen. Zusätzlich kann dieser Zusammenhang durch psychologische und entwicklungsbezogene Faktoren beeinflusst werden (vgl. Abbildung 1, Wittchen, Knappe & Hoyer, 2020, S. 25).

(1) Was ist Vulnerabilität? Unter Vulnerabilität versteht man die individuelle Anfälligkeit einer Person, an einer psychischen Störung zu erkranken. Sie setzt sich aus biologischen und genetischen Dispositionen sowie biografischen und sozialen Faktoren zusammen. Die individuelle Vulnerabilität ist bei jedem Menschen unterschiedlich.

(2) Was sind Stressereignisse? Von einer großen Menschenmasse im Einkaufszentrum bis hin zu einem lebensverändernden Ereignis, wie einem Umzug oder dem Verlust einer nahestehenden Person, können viele Situationen für Menschen ein Stressereignis sein (Wittchen & Hoyer, 2011). Man spricht in diesem Zusammenhang auch von Stressoren.

Beispielsweise können Kinder und Jugendliche eine genetische Veranlagung („Vulnerabilität“) für bestimmte psychische Erkrankungen haben, welche aber erst in Verbindung mit einem belastenden Lebensereignis, wie schulischen Problemen („Stressereignis“), zum Vorschein kommen. Ein Kind ohne diese genetische Prädisposition würde bei demselben Stressereignis keine Symptome einer psychischen Störung zeigen. Ein Kind mit einer anderen genetischen Veranlagung könnte jedoch Symptome einer ganz anderen Störung zeigen.

Einen erheblichen Stressor stellte für Kinder und Jugendliche die COVID-19-Pandemie mit den damit verbundenen Lockdowns dar. Bei Kindern von depressiven Elternteilen liegt aufgrund einer genetischen Komponente, die zur Entstehung von Depressionen beiträgt, ohnehin schon ein erhöhtes Risiko vor, an einer kindlichen Depression zu erkranken (Dall’Aglio, Lewis & Pain, 2021). Die Pandemie und deren Auswirkungen auf das soziale Leben stellte ein enormes Stressereignis dar und führte nicht selten dazu, dass diese Kinder tatsächlich an einer Depression erkrankten.

Bio-Psycho-Soziales-Modell

Neben dem Vulnerabilitäts-Stress-Modell findet zur Erklärung psychischer Gesundheit und Krankheit auch das Bio-Psycho-Soziale-Modell Anwendung. Dieses zeigt ebenfalls das Zusammenspiel mehrerer Komponenten zur Entstehung psychischer Störungen auf. Nach diesem Modell ergibt sich (psychische) Gesundheit bzw. Krankheit aus der Interaktion von biologischen, psychologischen und sozialen Faktoren. Es war das erste Modell, das neben biologischen Faktoren, wie Bakterien und Co. auch psychologische, soziale und verhaltensbezogene Prozesse sowie deren Interaktion berücksichtigte (Engel, 1977).

Kinder und Jugendliche sind aufgrund ihrer Entwicklung und ständig neuen Herausforderungen im Alltag (z. B. Selbstverantwortung übernehmen, eine Rolle in der Gesellschaft einnehmen) besonders anfällig, psychische Störungen zu entwickeln (Laube, van den Bos & Fandakova, 2020). Wenn der Verdacht auf eine psychische Störung besteht, ist es ratsam, die verschiedenen Dimensionen (biologisch, genetisch, psychologisch, biografisch, sozial) nicht getrennt voneinander zu betrachten. Stattdessen sollte versucht werden, sie zu einem umfassenden Bild der individuellen Lebenssituation des Kindes zusammenzuführen. Somit können die einzelnen Variablen und vor allem deren Kombination Auskunft darüber geben, wie wahrscheinlich es ist, dass eine psychische Erkrankung entsteht (Bastine, 1998).

Unser Vorgehen

Bei TALENT SAFARI legen wir nicht nur Wert darauf, dass sich unsere kleinen Klienten und deren Eltern wohlfühlen, sondern auch auf die wissenschaftliche Fundierung unserer Arbeit. Aus diesem Grund orientieren wir uns stets an den vorgestellten Modellen und deren praktischen Implikationen (z. B. dass Informationen aus verschiedenen Lebensbereichen berücksichtigt werden). Hierzu erfolgt eine ausführliche Anamnese, bei der verschiedene gesundheitsbezogene Daten erhoben werden. Mit Kindern führen wir stets eine eigene Anamnese durch und explorieren, d. h. erfragen, ob sie bspw. Kontakt zu ihren Großeltern haben oder ob sie gerne in den Kindergarten bzw. zur Schule gehen. Mit Eltern erfolgt eine deutlich umfangreichere Erhebung anamnestischer Informationen. So fragen wir die Eltern stets danach, ob Erkrankungen oder gesundheitliche Beeinträchtigungen wie z. B. Seh- oder Hörprobleme vorliegen. Außerdem schauen wir uns medizinische Vorbefunde an, lesen Schulzeugnisse und laden Erziehende oder Lehrkräfte zu Online-Befragungen ein. Erst unter Berücksichtigung all dieser Informationen können wir einen guten Eindruck erhalten, welchen Faktoren für das jeweilige Kind zusammenwirken. Diese Vorgehensweise ermöglicht ebenfalls, individuelle Risiko- und Schutzfaktoren zu identifizieren, bevor im weiteren Verlauf psychologische Testverfahren eingesetzt werden, um im diagnostischen Prozess voranzuschreiten.

Fazit

Der Mehrwert der vorgestellten Modelle liegt darin, dass sie zur Erklärung bestimmter psychischer Prozesse und Verhaltensweisen bis hin zum Stellen von Diagnosen beitragen. Damit sind die Modelle sehr hilfreich für unsere Arbeit, weil wir den Kindern und Eltern erklären können, wie es zur Entstehung einer psychischen Erkrankung kommen konnte. Dafür erarbeiten wir gemeinsam ein Störungsmodell, das neben der Entstehung auch Symptome oder damit einhergehende Verhaltensweisen erklärt. Das kann im Umgang mit dem Kind oder Jugendlichen sehr hilfreich sein. Natürlich unterstützen uns die Modelle auch, indem sie uns auf Bereiche aufmerksam machen, in denen das Kind „sehr gut aufgestellt“ ist. Dabei sprechen wir von Ressourcen oder Schutzfaktoren. Vielleicht hat das Kind ein Hobby, aus dem es sehr viel Kraft oder Erholung zieht oder eine besonders gute Bindung zu seiner Familie? Individuelle und soziale Ressourcen sind für die Aufrechterhaltung sowie für die Wiederherstellung von psychischer Gesundheit von enormer Bedeutung.

Sophia Geist

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Referenzen

Bastine, R. H. E. (1998). Klinische Psychologie. Stuttgart: Kohlhammer.

Dall’Aglio, L., Lewis, C. M. & Pain, O. (2021). Delineating the Genetic Component of Gene Expression in Major Depression. Biological Psychiatry89, 627–636.

Engel, G. L. (1977). The need for a new medical model: A challenge for biomedicine. Science, 196, 129–136.

Laube, C., van den Bos, W. & Fandakova, Y. (2020). The relationship between pubertal hormones and brain plasticity: Implications for cognitive training in adolescence. Developmental Cognitive Neuroscience, 42, 100753.

Wittchen, H.-U., Knappe , S. & Hoyer, J. (2020). Was ist Klinische Psychologie? Definitionen, Konzepte und Modelle. In H. U. Wittchen & J. Hoyer (Hrsg.), Klinische Psychologie und Psychotherapie (S. 3–28). Berlin: Springer.