
Entwicklungsstörungen im Kindesalter
Lesezeit: 7 Minuten
Einleitung
Kindliche Entwicklungsstörungen
Kindliche Entwicklungsstörungen umfassen eine Reihe von Störungen, die in Verbindung mit bestimmten Entwicklungsstadien auftreten (vgl. DSM-5). Sie treten in der Regel recht früh, also vor dem Schuleintritt, auf. Typischerweise zeigen Kinder mit Entwicklungsstörungen deutliche Defizite, die zu einer Beeinträchtigung der persönlichen, sozialen, schulischen oder beruflichen Leistungsfähigkeit führen. Diese Entwicklungsdefizite reichen von sehr spezifischen Einschränkungen beim Lernen oder bei der Kontrolle von exekutiven Funktionen bis hin zu globalen Defiziten sozialer Kompetenzen oder der kognitiven Begabung (Intelligenz).
Bestimmte Störungen der neuronalen und mentalen Entwicklung können gleichzeitig auftreten. Zum Beispiel haben Kinder mit einer Autismus-Spektrum-Störung häufig intellektuelle Beeinträchtigungen und viele Kinder mit einer Aufmerksamkeitsdefizit-/Hyperaktivitätsstörung (ADHS) erfüllen gleichzeitig die Kriterien einer spezifischen Lernstörung.
Bei einigen Störungen können sowohl Verhaltensauffälligkeiten als auch Verzögerungen beim Erreichen von alterstypischen Entwicklungsmeilensteinen auftreten. Beispielsweise ist eine Autismus-Spektrum-Störung nur dann in Erwägung zu ziehen, wenn charakteristische Einschränkungen in der sozialen Kommunikation mit sich wiederholenden stereotypen Verhaltensmustern, eingeschränkten Interessen und dem Verharren in routinierten Verhaltensweisen einhergehen (vgl. DSM-5).
Definition Entwicklungsstörung
Entwicklungsstörungen werden als Störungen der neuronalen und mentalen Entwicklung bezeichnet. Diese übergeordnete Kategorie von Störungen umfasst kindliche Beeinträchtigungen des Erwerbs, der Aufrechterhaltung sowie der Anwendung spezifischer Kenntnisse oder Informationen. Die Beeinträchtigungen wirken sich in der Regel auf viele kognitive Prozesse aus, u. a. Aufmerksamkeit, Gedächtnis, Wahrnehmung, Sprache, Problemlösung und auch die soziale Interaktion.
Die wichtigsten 6 Störungen der neuronalen und mentalen Entwicklung:
- Intellektuelle Beeinträchtigungen
- Kommunikationsstörungen
- Autismus-Spektrum-Störung
- Aufmerksamkeitsdefizit-/Hyperaktivitätsstörung (ADHS)
- Spezifische Lernstörung
- Motorische Störungen
Bestimmte Störungen der neuronalen und mentalen Entwicklung können nur leicht ausgeprägt sein und mithilfe von einfachen Verhaltensmaßnahmen oder erzieherischen Maßnahmen kontrollierbar sein. Bei schwerwiegenderen Ausprägungen benötigen die betroffenen Kinder jedoch mehr Unterstützung. Dies ist zumeist dann der Fall, wenn die (kognitiven) Leistungen der Kinder in dem betroffenen Entwicklungsbereich erheblich von dem Entwicklungsalter abweichen.
Die Störungen im Detail
Nach ICD-11 / DSM-5:
1. Intellektuelle Beeinträchtigungen (Intellectual Disability)
Definition:
Intellektuelle Beeinträchtigungen sind neuroentwicklungsbedingte Störungen, die durch signifikant unterdurchschnittliche intellektuelle Fähigkeiten (z. B. Problemlösen, abstraktes Denken, Lernfähigkeit) sowie durch Defizite im adaptiven Verhalten (z. B. Alltagsfertigkeiten, soziale Teilhabe, Kommunikation) gekennzeichnet sind. Die Symptome müssen in der Kindheit beginnen und in mehreren Lebensbereichen zu Beeinträchtigungen führen.
2. Kommunikationsstörungen (Communication Disorders)
Definition:
Kommunikationsstörungen umfassen mehrere Störungen, die Sprache, Sprechen und Kommunikation betreffen und in der frühen Entwicklung beginnen. Dazu zählen:
-
Sprachstörung (Language Disorder): Schwierigkeiten beim Spracherwerb (Vokabular, Grammatik, Satzbau).
-
Sprechstörung / Stottern (Childhood-Onset Fluency Disorder): Wiederholungen, Blockaden oder Sprechunterbrechungen.
-
Soziale (pragmatische) Kommunikationsstörung: Probleme mit dem sozialen Gebrauch von Sprache (z. B. Blickkontakt, Gesprächsregeln, Kontextanpassung).
-
Sprechstörungen aufgrund motorischer Probleme (z. B. Artikulationsstörungen).
Die Störungen führen zu deutlichen Einschränkungen im Alltag, in der Schule oder in sozialen Situationen.
3. Autismus-Spektrum-Störung (ASS / ASD)
Definition:
Die Autismus-Spektrum-Störung ist eine neuroentwicklungsbedingte Störung, die durch zwei Hauptmerkmale definiert wird:
-
Anhaltende Defizite in sozialer Kommunikation und sozialer Interaktion (z. B. Blickkontakt, nonverbale Signale, Beziehungsaufbau).
-
Eingeschränkte, repetitive Verhaltensmuster, Interessen oder Aktivitäten (z. B. Routinen, Spezialinteressen, sensorische Besonderheiten).
ASS ist ein Spektrum, d. h. Ausprägung und Unterstützungsbedarf variieren stark. Symptome müssen in der frühen Entwicklung beginnen.
4. Aufmerksamkeitsdefizit-/Hyperaktivitätsstörung (ADHS)
Definition:
ADHS ist eine neurobiologische Entwicklungsstörung mit Symptomen in zwei Bereichen:
-
Unaufmerksamkeit (z. B. Konzentrationsprobleme, Vergesslichkeit, Schwierigkeiten, Aufgaben zu organisieren)
-
Hyperaktivität/Impulsivität (z. B. motorische Unruhe, Impulsdurchbrüche, Schwierigkeiten, still zu sitzen)
Es gibt drei Erscheinungsbilder: vorwiegend unaufmerksam, vorwiegend hyperaktiv-impulsiv, gemischt.
Die Symptome müssen vor dem 12. Lebensjahr beginnen, in mindestens zwei Lebensbereichen (z. B. Schule, Zuhause) auftreten und die Funktionsfähigkeit beeinträchtigen.
5. Spezifische Lernstörung (Specific Learning Disorder, SLD)
Definition:
Eine spezifische Lernstörung beschreibt anhaltende Schwierigkeiten beim Erlernen schulischer Basiskompetenzen, die nicht durch Intelligenzminderung, mangelnde Schulbildung oder andere Ursachen erklärbar sind. Betroffen sein können:
-
Lesen (Lese-/Rechtschreibstörung; Dyslexie)
-
Schreiben
-
Rechnen (Dyskalkulie)
Typisch sind Lernprobleme trotz angemessener Förderung, die über mindestens 6 Monate bestehen.
6. Motorische Störungen (Motor Disorders)
Zu den motorischen Störungen zählen mehrere Unterformen:
Entwicklungsstörung der Koordination (DCD / Dyspraxie): Beeinträchtigte motorische Planung und Koordination (z. B. Stolpern, Schwierigkeiten beim Schreiben oder Sport). Alltagsaktivitäten sind deutlich beeinträchtigt.
Tic-Störungen: Wiederholte, unwillkürliche motorische oder vokale Tics, z. B. beim Tourette-Syndrom.
Stereotype Bewegungsstörung: Repetitive, scheinbar zwecklose Bewegungen (z. B. Schaukeln, Händeflattern), die zu Selbstverletzungen führen können.
Motorische Störungen beginnen in der frühen Entwicklung und beeinträchtigen sozial, schulisch oder motorisch.
Entstehung
Als Ursachen für die Entstehung von Störungen der neuronalen und mentalen Entwicklung können genetische und umweltbedingte Faktoren herangezogen werden. Als Hauptursache wird in vielen Studien eine genetische Veranlagung diskutiert, die zusammen mit ungünstigen Umweltfaktoren (z. B. soziales Lernen) zu einem erhöhten Risiko für die Erstmanifestation führt. Für das Beispiel einer Sprachstörung können also sowohl genetische Ursachen (z. B. Sprachstörung eines Elternteils), als auch Umweltfaktoren, wie mangelnde Sprachanregung oder eine frühkindliche Hirnschädigung, ursächlich sein. Ähnlich verhält es sich bei der Erklärung einer Autismus-Spektrum-Störung oder einer Aufmerksamkeitsdefizit-/Hyperaktivitätsstörung (ADHS).
Ausblick
Wenn einige der beschriebenen Aspekte auf das Erleben und Verhalten von Ihrem Kind zutreffen, dann lohnt sich der Weg zu einem Kinderpsychologen. Um festzustellen, ob bestimmte psychische Auffälligkeiten als altersgerecht und „normal“ angesehen werden können, sollte eine differenzierte psychologische Diagnostik erfolgen. Bei TALENT SAFARI können die erforderlichen Untersuchungen zur Beantwortung einer bestimmten Fragestellung wie bspw. „Lassen sich die Verhaltensauffälligkeiten von meinem Kind mit einer ADHS beschreiben?“ durchgeführt werden.
Eine psychologische Diagnostik liefert wichtige Antworten, die nicht nur für die Eltern (und Lehrkräfte), sondern vor allem für das betroffene Kind einen enormen Mehrwert darstellen. Darüber hinaus können sich anschließende Trainingsmaßnahmen dem Kind zu mehr Lebensfreude, Lernerfolg & Co. verhelfen. Es lohnt sich also in jedem Fall, sich bei einer vermuteten Entwicklungsstörung an einen Kinderpsychologen zu wenden.
Mehr Informationen gibt es auch auf unserem Instagram-Kanal.
Lara Felicia Harth
***
Referenzen
APA [American Psychiatric Association] (2018). Diagnostisches und Statistisches Manual Psychischer Störungen DSM-5®. Göttingen: Hogrefe.
World Health Organization. (2019). International classification of diseases for mortality and morbidity statistics (11th rev.). WHO.
Hinterlasse einen Kommentar