Hände, die einen Kopf aus Papier halten, Hochbegabung wird durch Bücher dargestellt

Hochbegabung: 4 hartnäckige Mythen im Faktencheck

Lesezeit: 10 min

Einleitung

Hochbegabte sind immer Einserschüler, haben keine Lernbeeinträchtigungen, neigen jedoch zu Verhaltensauffälligkeiten. Die Liste über Vorurteile und Stereotype zum Thema Hochbegabung ist lang. Doch was steckt wirklich hinter dem Mythos Hochbegabung?

Detlef H. Rost ist emeritierter Professor für Psychologie an der Philipps-Universität Marburg und forscht seit Jahrzehnten zum Thema Hochbegabung. Er wurde vor allem durch das von ihm initiierte Marburger Hochbegabtenprojekt (Rost, 1993, 2009) bekannt und leitete die „Begabungsdiagnostische Beratungsstelle BRAIN“ in Marburg. In einem Interview mit der Fachzeitschrift Schulmanagement klärte er bereits im Jahr 2016 über die größten Mythen und Fakten zu intellektueller Hochbegabung aus wissenschaftlicher Sicht auf. In diesem Blogartikel fassen wir die vier wichtigsten Mythen zusammen.

Zur Erinnerung: Was ist Hochbegabung?

Zwar existiert weltweit keine einheitliche Definition von intellektueller Hochbegabung, dennoch sei hier eine exemplarische Definition angeführt, die viele wichtige Aspekte beinhaltet (Preckel & Vock, 2021, S. 15):

Intellektuelle Hochbegabung kennzeichnet ein extrem hoch ausgeprägtes leistungsbezogenes Entwicklungspotenzial für Leistungsbereiche, in denen Informationsverarbeitung, Lernen und Wissensaneignung, abstraktes Denken sowie Problemlösen und die Entwicklung neuer Ideen relevant sind. Damit ist intellektuelle Hochbegabung ein sehr breites Konstrukt, denn es gibt kaum einen Bereich, in dem Lernen, abstraktes Denken oder Problemlösen keine Rolle spielen.

Alle existierenden Erklärungsmodelle setzen das Vorliegen einer weit überdurchschnittlichen intellektuellen Leistungsfähigkeit voraus. Kinder gelten als „hochbegabt“, wenn sie in einem Intelligenztest einen Intelligenzquotienten (IQ) von 130 und höher erreichen. Circa 2 % der Kinder einer Altersgruppe gelten als hochbegabt. Rost definiert Hochbegabung beispielsweise durch die hohe Anpassungsgabe einer Person an neue Situationen und Probleme. Demnach zeichnet sich Hochbegabung durch Übertragung von Wissen und Problemlösestrategien aus. Für die erfolgreiche Identifikation von hochbegabten Kindern muss eine Intelligenzmessung erfolgen, die ab einem Alter von etwa fünf Jahren aussagekräftig ist. Auf unserer Webseite finden Sie bereits einen anderen Blogartikel, in dem wichtige Fakten zum Thema Hochbegabung beschrieben werden. Wenn Sie interessiert sind, können Sie unter diesem Link weiterlesen.

Mythos 1: Hochbegabt, aber verhaltensauffällig

Die Annahme, dass Hochbegabte überzufällig häufig verhaltensauffällig oder sogar sozial auffällig sind, ist heute weit verbreitet, jedoch gibt es hierzu keine empirischen Belege (Rost, 2016). Demnach unterscheiden sich Hochbegabte lediglich durch ihren höher ausgeprägten IQ von Nicht-Hochbegabten und nicht durch andere Persönlichkeitsmerkmale. In Bezug auf andere Persönlichkeitsmerkmale gibt es innerhalb der Hochbegabten sehr große Unterschiede, wie unter Nicht-Hochbegabten auch.

Wichtige Schlüsse, die aus dem Marburger Hochbegabtenprojekt gezogen werden konnten, sind unter anderem, dass hochbegabte Kinder im Durchschnitt etwas besser angepasst, zufriedener und auch erfolgreicher sind, als normalbegabte Kinder. Wenn es zu Schwierigkeiten bei hochbegabten Kindern kommt, dann resultieren diese Probleme weniger aus der Hochbegabung selbst, sondern manifestieren sich durch die zumeist komplexe Wechselwirkung ungünstiger Entwicklungsbedingungen zwischen Individuum, Familie und Schule (Rost, 1993, 2009).

Mythos 2: Lehrkräfte erkennen Hochbegabung am besten

In einer Studie im Rahmen des Projekts „Lebensumweltanalyse besonders begabter Grundschulkinder“ untersuchten Wild und Rost (1995) über 6.000 Grundschulkinder und ließen die Lehrkräfte einschätzen, wie gut bzw. schlecht die Kinder ihrer Klasse jeweils in einem Intelligenztest abschneiden würden. Den Lehrkräften wurde erläutert, welche kognitiven Fähigkeiten für die einzelnen Aufgabentypen gefragt sind und Beispielaufgaben präsentiert werden. Dabei stellte sich heraus, dass die Lehrkräfte die Testaufgaben nur schwer voneinander trennen konnten und die Intelligenz der Kinder nicht sehr akkurat einschätzen konnten (Wild & Rost, 1995).

Das kann vor allem dadurch erklärt werden, dass sich Lehrkräfte bei ihren Einschätzungen an der Leistung der Kinder orientieren. Zeigen hochbegabte Kinder nicht entsprechende Leistungen, werden sie von den Lehrkräften nicht als solche erkannt. Zudem sind Lehrkräfte nicht speziell dafür ausgebildet, eine Hochbegabung bei Kindern und Jugendlichen zu identifizieren (Rost, 2016).

Mythos 3: Hochbegabte brauchen weniger Schlaf

Busby und Pivik (1983) untersuchten schon vor mehr als 40 Jahren das Schlafverhalten von hochbegabten und durchschnittlich intelligenten Kindern und fanden heraus, dass sich das Schlafverhalten bzw. die Muster und Mengen von Schlafstadien nicht signifikant zwischen beiden Gruppen unterschieden. Dass Hochbegabte weniger Schlaf benötigen als Normalbegabte, ist ein weiterer Mythos, der sich nicht bestätigen ließ.

Das Genie Albert Einstein soll beispielsweise besonders viel geschlafen hat, nämlich etwa zehn Stunden pro Nacht. Zwar gibt es keine stichhaltigen wissenschaftlichen Beweise, die diese Behauptung eindeutig belegen, jedoch wird sie oft als Erklärung für Einsteins außergewöhnliche Kreativität und sein Denkvermögen angeführt, da Schlaf eine wichtige Rolle für die kognitive Funktion und das Gedächtnis spielt.

Mythos 4: Hochbegabung = Höchstleistung

Zeigt sich eine Hochbegabung immer in sehr guten schulischen Leistungen? Tatsächlich bedeutet Hochbegabung nicht, dass automatisch herausragende Leistungen erbracht werden. Zahlreiche Studien belegen zwar, dass Intelligenz der stärkste Prädiktor von schulischem und beruflichem Erfolg ist, jedoch muss sich die Begabung nicht in jedem Fall in einer sehr guten Leistung niederschlagen (Rost, 2016). Zeigt ein Schüler oder eine Schülerin über einen längeren Zeitraum hinweg trotz eines sehr hohen Leistungspotenzials und einer überdurchschnittlichen Intelligenz nur mäßige oder schlechte Schulleistungen, so spricht man von  „Underachievement“. Wie ein systematischer Review internationaler Studien zu Underachievement zeigte, können in der Grundschule zwischen 16–28 % und in der weiterführenden Schule zwischen 9–23 % der erfassten Schülerinnen und Schüler als Underachiever angesehen werden (White, Graham & Blaas, 2018).

Um das eigene Potenzial in Leistung umsetzen zu können, bedarf es einem gelingenden Zusammenspiel von verschiedenen Merkmalen der Kinder, beispielsweise dem Selbstkonzept, Temperament, Motivation, Konzentration, Unterrichtsqualität oder der elterlichen Unterstützung. Wenn diese Faktoren positiv zusammenwirken, kann das Kind herausragende Leistungen zeigen. Hochbegabte werden von Lehrpersonen oft nur dann identifiziert, wenn diese auch Spitzenleistungen erbringen. Leidet ein Kind jedoch an starker Prüfungsangst und kann in Prüfungssituationen sein Potenzial nicht abrufen, wird seine Hochbegabung weniger augenscheinlich (Rost, 2016).

Fazit

Ein Urteil über das Vorliegen einer intellektuellen Hochbegabung ist ohne eine psychologisch-diagnostische Abklärung nicht möglich. Das Mittel der Wahl ist hierfür die Durchführung einer standardisierten Intelligenzdiagnostik. Dies sollte mit einem differenzierten Intelligenztest erfolgen, der verschiedene kognitive Fähigkeiten eines Kindes abzubilden vermag. Wir bei TALENT SAFARI führen eine differenzierte Intelligenzdiagnostik durch und beraten Sie gerne und geben ggf. weitere Empfehlungen. Besonders am Herzen liegt es uns dabei, über Vorurteile und Unwahrheiten zum Thema Hochbegabung aufzuklären. Wenn Sie schon jetzt gerne mehr über Lernen, Intelligenz und Hochbegabung erfahren möchten oder andere spannende psychologische Themen erkunden wollen, dann schauen Sie doch gerne auf unserem Blog und unseren Instagram-Kanal vorbei.

Tanja Grenzebach & Dr. Katharina Reschke

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Referenzen

Busby, K. A. & Pivik, R. T. (1983). Sleep patterns in children of superior intelligence. Journal of Child Psychology and Psychiatry and Allied Disciplines, 24, 587–600.

Preckel, F. & Vock, M. (2021). Hochbegabung: ein Lehrbuch zu Grundlagen, Diagnostik und Fördermöglichkeiten. Göttingen: Hogrefe.

Rost, D. H. (1993). Lebensumweltanalyse hochbegabter Kinder. Göttingen: Hogrefe.

Rost, D. H. (2009). Hochbegabte und hochleistende Jugendliche. Befunde aus dem Marburger Hochbegabtenprojekt. Münster: Waxmann.

Rost, D. H. (2016). Mythen und Fakten zur Hochbegabung. Interview mit Prof. Dr. Detlef H. Rost. Schulmanagement, 47, 22–26.

White, S. L. J., Graham, L. J. & Blaas, S. (2018). Why do we know so little about the factors associated with gifted underachievement? A systematic literature review. Educational Research Review, 24, 55–66.

Wild, K.-P. & Rost, D. H. (1995). Klassengröße und Genauigkeit von Schülerbeurteilungen. Zeitschrift für Entwicklungspsychologie und Pädagogische Psychologie, 27, 78–90.