Was ist dran an Hochsensibilität?
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Einführung
Menschen sind häufig auf der Suche nach Erklärungen für ihr Erleben und Verhalten. Im Zuge dessen recherchieren sie im Internet und stoßen dabei auf Anzeichen oder Symptombeschreibungen, von denen sie glauben, dass sie scheinbar auf sie zutreffen. Das ist natürlich verlockend, weil Menschen dadurch schnelle Antworten auf ihre Fragen geliefert bekommen und sie ihr Erleben und Verhalten dadurch besser zu verstehen glauben.
Das gilt jedoch als kritisch zu betrachten, da viele Menschen nicht über das nötige medizinische oder psychologische Fachwissen verfügen, welches für die Zuschreibung von bestimmten Merkmalen, Eigenschaften oder Auffälligkeiten benötigt wird. Während der letzten Jahre kursierten immer wieder Modeerscheinungen durch die Medien, ohne dass diese Merkmale wissenschaftlich belegt wurden.
Seit einigen Jahren hört man immer wieder einen Begriff, wenn es um Empathie, Emotionen oder die generelle Reizwahrnehmung, im öffentlichen Diskurs, geht. Hochsensibilität.
Doch was bedeutet der Begriff eigentlich und woher stammt er?
Typische Merkmale einer “hochsensiblen” Person
- Starke Reaktion auf äußere Reize wie Klang und Licht
- Tiefere Verarbeitung und dadurch emotionalere/ausgeprägte Reaktion
- Starkes Einfühlungsvermögen und Wahrnehmung von Emotionen bei sich und anderen
- Überstimulation in sozialen Umgebungen und dadurch schnellere Ermüdung / Erschöpfung
- Ausgeprägte Fantasie
Erstmals erwähnt wurde der Begriff Hochsensibilität von Aron und Aron (1997). Es handelt sich dabei nach heutigem Wissensstand um ein Persönlichkeitsmerkmal, welches die Verarbeitung von externen Reizen (fünf Sinne) und internen Reizen (Hunger, Schmerz) beschreibt. Ein deutsches Synonym wäre bspw. “Überempfindlichkeit” (Herzberg, 2022). Menschen unterscheiden sich in ihrer Empfindlichkeit sowohl gegenüber aversiven als auch gegenüber förderlichen Umwelten. Hochsensibilität impliziert, dass die Verarbeitung von solchen Reizen über ein durchschnittliches Maß hinausgeht. Die Hochsensibilität bringt damit positive und negative Seiten mit sich und kann in manchen Fällen bei den Betroffenen einen Leidensdruck erzeugen.
Hochsensibilität als Konstrukt
Hochsensibilität wird als Temperamentseigenschaft und nicht als Störung konzeptualisiert. Aron und Aron (1997) führten Hochsensibilität als eine Eigenschaft ein, die mit anderen Temperaments- und Persönlichkeitskonstrukten zusammenhängt, sich aber von ihnen unterscheidet. Hochsensibilität zeigt geringe bis mittlere Zusammenhänge mit bestehenden Temperaments- und Persönlichkeitsmerkmalen (z. B. Neurotizismus) und unterscheidet sich auch konzeptionell von diesen. Es gibt daher recht gute Belege dafür, dass Hochsensibilität als ein eigenständiges Konstrukt betrachtet werden kann (Greven et al., 2019). Eine ätiologische Erklärung gibt es derzeit nicht. Es ist also noch unklar, welche Ursachen dieser Eigenschaft zugrunde liegen.
Auf Basis von ersten Messungen mit einem Selbstbeurteilungsfragebogen zu positiven und negativen kognitiven und emotionalen Reaktionen auf verschiedene Umweltreize wie Koffein, Kunst, laute Geräusche, Gerüche und Stoffen, schätzten Forscher*innen, dass etwa 15-20 % der Bevölkerung als hochsensibel gelten können (Aron & Aron, 1997). Die Messinstrumente wurden über die letzten Jahrzehnte weiterentwickelt und so liegen inzwischen validierte Fragebögen zur Messung von Hochsensibilität im Erwachsenenalter vor. Darüber hinaus existiert eine Elternberichtsskala, die zur Beurteilung von hochsensiblen Kindern genutzt werden kann und bei der die Eltern über das Verhalten des Kindes berichten. Studien aus Großbritannien und den USA haben gezeigt, dass aus Stichproben mit Kindern und Jugendlichen zwischen 8–19 Jahren ca. 30 % der Kinder als hochsensibel klassifiziert werden konnten (Lionetti et al., 2018; Pluess et al., 2017).
Neuere Forschung
Einige Forschergruppen haben untersucht, inwiefern Hochsensibilität mit bestimmten Outcomes zusammenhängt. Dabei zeigten sich bei Erwachsenen positive Zusammenhänge zwischen Hochsensibilität und Angst, Schwierigkeiten in der Emotionsregulation und Stressverarbeitung, Depression, geringere Lebenszufriedenheit sowie ein höherer Bedarf an Erholung (Greven et al., 2019). Gleichzeitig ging war Hochsensibilität mit positiven Outcomes assoziiert, wie einem höheren Ausmaß an Kreativität, einem intensiven Erleben von Kunst und Musik, dem Erleben von positivem Affekt sowie einer höheren sozialen Kompetenz in Interaktion mit positiven Erziehungsstilen (Greven et al., 2019). Die Forschung zu Hochsensibilität steckt allerdings noch in den Kinderschuhen und sollte in den kommenden Jahren weiter vorangetrieben werden.
Auch im Kindes- und Jugendalter kann sich eine Hochsensibilität unterschiedlich auswirken. Hochsensible Kinder, die positiven Lebensereignissen ausgesetzt sind, können aufblühen und außerordentlich gute Leistungen erbringen, indem sie beispielsweise eine positivere Stimmung und eine höhere Interaktionsbereitschaft zeigen (Pluess & Boniwell, 2015; Slagt et al., 2017). Gleichwohl können ungünstige Umweltbedingungen bei hochsensiblen Kindern zu einer atypischen Entwicklung beitragen, was sich negativ auf das Wohlbefinden auswirkt und das Risiko für Verhaltensprobleme und Psychopathologien in der Kindheit und im Erwachsenenalter erhöht (Aron et al., 2005; Booth et al., 2015).
Sollten Sie das Gefühl haben, dass Ihr Kind hochsensibel sein könnte und bestimmte Herausforderungen im Alltag erlebt, dann kontaktieren Sie uns gerne!
Eric Martin, Tom Reschke & Katharina Reschke
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Referenzen
Aron, E. N. & Aron, A. (1997). Sensory-processing sensitivity and its relation to introversion and emotionality. Journal of Personality and Social Psychology, 73, 345–368.
Greven, C.U., Lionetti, F., Booth, C., Elaine, A.N., Fox, E., Schendan, H., Pluess, M., Bruining, H., Acevedo, B., Bijttebier, P., & Homberg, J. (2019). Sensory Processing Sensitivity in the context of Environmental Sensitivity: A critical review and development of research agenda. Neuroscience and Biobehavioural Reviews, 9, 287–305.
Herzberg, P. Y. (2022). Hochsensibilität im Dorsch Lexikon der Psychologie. https://dorsch.hogrefe.com/stichwort/hochsensibilitaet#search=ab7784b904429365e7e4fd478f2f74fb&offset=0
Lionetti, F., Aron, A., Aron, E.N., Burns, L.G., Jagiellowicz, J., & Pluess, M. (2018). Dandelions, Tulips and Orchids: Evidence for the existence of low-sensitive, medium- sensitive, and high-sensitive individuals. Translational Psychiatry, 8, 24.
Pluess, M., Assary, E., Lionetti, F., Lester, K. J., Krapohl, E., Aron, E. N., & Aron, A. (2018). Environmental sensitivity in children: Development of the Highly Sensitive Child Scale and identification of sensitivity groups. Developmental Psychology, 54, 51–70.
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