Modediagnose ADHS – Was wirklich dahintersteckt ( 1 | 3 )
Teil 1|3: Begriff, Symptome und Diagnostik
„Ob der Philipp heute still wohl bei Tische sitzen will?“ Also sprach in ernstem Ton der Papa zu seinem Sohn. Und die Mutter blickte stumm auf dem ganzen Tisch herum. Doch der Philipp hörte nicht, was zu ihm der Vater spricht. Er gaukelt und schaukelt, er trappelt und zappelt auf dem Stuhle hin und her.“ (Hoffmann, 1845). Diese Zeilen stammen aus dem allseits bekannten Kinderbuch „Der Stuwwelpeter“, in welchem der Frankfurter Arzt und Psychiater Heinrich Hoffmann Geschichten von verhaltensauffälligen Kindern beschreibt. Spielt Hoffmann mit der Geschichte vom Zappel-Philipp auf das Erscheinungsbild ADHS an? Was genau verbirgt sich hinter diesem Akronym und wie kann man feststellen, ob ein Kind von ADHS betroffen ist? All diese Fragen sollen in dem vorliegenden Blog-Artikel beantwortet werden.
Definition und Symptome
Die für eine Aufmerksamkeitsdefizit- / Hyperaktivitätsstörung (ADHS) charakteristischen Merkmale sind Unaufmerksamkeit und Hyperaktivität / Impulsivität. Nach den Diagnosekriterien der ICD-11 (International Classification of Diseases, 11. Revision) gehört ADHS zu den neuronalen Entwicklungsstörungen und wird diagnostiziert, wenn …
- die Symptome mindestens 6 Monate anhalten
- die Symptome bereits vor dem 12. Lebensjahr auftraten (typischerweise bereits in früher bis mittlerer Kindheit, auch wenn dies erst retrospektiv diagnostiziert wird)
- mehrere Lebensbereiche betroffen sind (z. B. Schule und Zuhause)
- die Symptome außerhalb der normalen Variationen, die für das Alter und die Entwicklung kognitiver Fähigkeiten zu erwarten sind, liegen
- deutliche Beeinträchtigungen im sozialen, schulischen oder beruflichen Lebensbereich gegeben sind
- die Symptome nicht besser durch andere psychische (Entwicklungs-) Störungen erklärt werden können oder aufgrund des Effekts einer Substanz (z. B. Medikation) entstehen.
Typische Symptome bzw. Anzeichen, die den Bereich der Unaufmerksamkeit betreffen sind die folgenden: Unaufmerksamkeit gegenüber Details oder Sorgfaltsfehler. Die Aufmerksamkeit kann beispielsweise bei den Hausaufgaben nicht aufrechterhalten werden. Kinder verlieren häufig Gegenstände und können häufig Aufgaben oder Aktivitäten nicht organisieren. Kinder werden häufig von externen Reizen abgelenkt. Kinder vermeiden unliebsame Aufgaben. Typische Symptome in Bezug auf Hyperaktivität stellen die Folgenden dar: Kinder fuchteln mit Händen und Füßen herum. Kinder verlassen ihren Platz im Klassenraum. Kinder laufen in unpassenden Situationen herum oder klettern extensiv und sind beim Spielen unnötig laut. Kinder legen trotz sozialer Einflussnahme ein anhaltendes Muster extensiver motorischer Unruhe an den Tag. Typische Symptome der Impulsivität sind die Folgenden: Kinder platzen häufig mit Antworten heraus. Kinder können nicht warten bis sie an der Reihe sind. Kinder unterbrechen andere häufig bzw. stören und reden häufig exzessiv.
Das US-amerikanische Klassifikationssystem Diagnostic and Statistical Manual in der 5. Auflage (DSM-5) der American Psychiatric Association hat eine Aufteilung in Subtypen mit einem vorwiegend unaufmerksamen, einem vorwiegend hyperaktiv-impulsiven und einem Mischtyp vorgenommen. Es müssen daher nicht immer Symptome aus allen drei Bereichen auftreten. Auch im DSM-5 wird ADHS als eine Störung der neuronalen und mentalen Entwicklung eines Kindes geführt.
Häufig sind bereits im Säuglingsalter Anzeichen der ADHS zu beobachten (z. B. motorische Unruhe, häufiges Schreien, Ein- und Durchschlafstörungen). Später zeigen sich beim Spielverhalten ebenfalls motorische Unruhe, Ablenkbarkeit bis hin zu destruktivem Verhalten. Impulsives Verhalten wie wildes Toben führen häufig zu Verletzungen. Weiterhin ist eine feinmotorische Ungeschicklichkeit bei Kindern auffällig, die sich bereits vor Schuleintritt, spätestens jedoch beim Schriftspracherwerb zeigt. Mit Schuleintritt werden die Probleme besonders augenscheinlich.
In der schulischen Lernsituation können sich Kinder mit ADHS aufgrund der zahlreichen ablenkenden Reize häufig sehr schlecht konzentrieren. Das längere, zielführende Arbeiten an Aufgaben, die nicht immer dem eigenen Interesse entsprechen, fällt besonders schwer. Die schulischen Aufgaben (z. B. Hausaufgaben) werden häufig nicht oder nur unzureichend erledigt, wodurch es zu Schwierigkeiten mit Lehrkräften und Eltern kommt. Häufig entwickeln sich aus diesem Arbeitsverhalten langfristig Leistungsprobleme, so dass Kinder mit ADHS schon in der Grundschule Leistungsdefizite aufbauen. Diese wirken sich zumeist auf den gesamten folgenden Bildungsweg negativ aus.
Prävalenz und Komorbidität
Die ADHS zählt zu den häufigsten kinder- und jugendpsychiatrischen Störungen. In einer Metaanalyse aller verfügbaren internationalen Studien im Kindes- und Jugendalter wurde zunächst eine weltweite mittlere Prävalenzrate von 5,3 % berechnet (Polanczyk et al., 2007). Als Prävalenz bezeichnet man die Auftretenswahrscheinlichkeit einer Erkrankung innerhalb der Gesamtpopulation. In einer Folgestudie wurde eine weltweite Prävalenz von 5 % ermittelt und es fanden sich keine Hinweise auf eine Zunahme der Prävalenz in den letzten drei Dekaden (Polanczyk et al., 2014). In den Prävalenzen zeigen sich deutliche Geschlechtsunterschiede insofern, dass Jungen häufiger betroffen sind als Mädchen (Verhältnis 2,5 zu 1; Sayal et al., 2017). Häufig geht ADHS mit anderen psychischen Störungen einher. Es zeigen sich beispielweise Komorbiditäten mit aggressivem, sozial auffälligem Verhalten bzw. trotzigem, undiszipliniertem Verhalten, Angst, Depressivität und Stimmungsschwankungen (Steinhausen et al., 2020). Zudem zeigte sich, dass Kinder mit ADHS häufig auch von Lernstörungen betroffen sind, wie einer Lese-Rechtschreibstörung oder einer Rechenstörung (Döpfner et al., 2013). Kinder mit ADHS weisen häufiger von den Eltern wahrgenommene Schlafprobleme auf als gesunde Kinder: Eine lange Einschlafdauer besteht bei 56 %, häufiges nächtliches Erwachen bei 39 % und Morgenmüdigkeit bei 55 % der Kinder (Steinhausen et al., 2020).
Diagnostischer Prozess
Der Diagnoseprozess bei einem Verdacht auf ADHS besteht aus mehreren Schritten, bei denen verschiedene Datenquellen und Methoden genutzt werden. Zunächst steht das persönliche Gespräch im Vordergrund. Die Diagnostik beruht hierbei schwerpunktmäßig auf dem klinischen Interview mit dem Patienten bzw. seinen wichtigsten Bezugspersonen. In diesen Gesprächen werden grundlegende Informationen über Art der Verhaltensauffälligkeiten, deren Beginn und Verlauf sowie einen möglichen Leidensdruck der betroffenen Personen gesammelt. Darüber hinaus wird abgeklärt, ob die Diagnosekriterien für eine ADHS erfüllt werden. Ebenso werden Verhaltensbeobachtungen seitens wichtiger Bezugspersonen in verschiedenen Kontexten (Eltern und Lehrpersonen) eingeholt. Dabei schätzen die Bezugspersonen das typische Verhalten der Kinder im Alltag anhand von standardisierten Beurteilungsskalen ein (Döpfner et al., 2008). Darüber hinaus wird das Verhalten der Kinder in den jeweiligen Untersuchungssituationen von Kinderpsycholog*innen beobachtet und eingeschätzt.
Ein weiterer wichtiger Bestandteil im Rahmen der Diagnostik einer ADHS bildet die Durchführung von standardisierten Testverfahren. So ist es beispielsweise von hoher Bedeutung, das Konzentrationsvermögen der Kinder zu messen. Zudem ist indiziert, die Exekutivfunktionen sowie die allgemeine Intelligenz der Kinder zu messen. Bei einer Intelligenzmessung kann geprüft werden, inwiefern in einzelnen Bereichen der kognitiven Leistungsfähigkeit Funktionsbeeinträchtigungen vorliegen (z. B. im Arbeitsgedächtnis oder der Verarbeitungsgeschwindigkeit). Für die Ergebnisinterpretation und die Stellung einer möglichen Diagnose werden die mit den verschiedenen Methoden gesammelten Informationen zusammengefasst. Danach ist es wichtig, den betroffenen Kindern und deren Eltern Empfehlungen auszusprechen, welche Behandlungsoptionen bestehen.
Fazit
Interessanterweise konnten wesentliche Merkmale einer ADHS, wie Probleme in den Bereichen Aktivität und Impulskontrolle sowie dem Aufmerksamkeitsverhalten von Kindern schon vor Jahrhunderten beobachtet werden (siehe Zappel-Philipp). ADHS ist also kein Phänomen der Neuzeit. Trotzdem gehört ADHS heutzutage zu den häufigsten psychischen Störungen im Kindes- und Jugendalter und wird hin und wieder als Modediagnose diskutiert. Mit dem Eintritt in die Grundschule werden Kinder vor neue Herausforderungen an ihre selbstregulatorischen Kompetenzen gestellt. Im Zuge dessen werden die typischen Probleme einer ADHS häufig erstmals mit einem Leidensdruck erlebt. Häufig kommt es dazu, dass Kinder im Unterricht negativ auffallen oder sie Schwierigkeiten bei den Hausaufgaben erleben. Kommen dann noch schlechte Schulleistungen hinzu, fragen sich Eltern und Lehrkräfte, worauf diese Probleme zurückzuführen sind.
Sollten Sie die oben beschriebenen Symptome bei Ihrem Kind beobachten und den Verdacht hegen, dass ihr Kind von ADHS betroffen sein könnte? Oder wurden Sie von der Lehrkraft angesprochen, dass Ihr Kind auffälliges Verhalten in der Schule zeigt? Falls Sie bereits eine dieser Fragen mit Ja beantworten können, dann sollten Sie eine kinderpsychologische Praxis aufsuchen und den Auffälligkeiten nachgehen. Wir von TALENT SAFARI führen ADHS-Diagnostik routinemäßig durch. Es liegt uns am Herzen, dass wir dabei auch Eltern und Lehrkräfte ins Boot holen, damit Kinder und Jugendliche möglichst schnell professionelle Hilfestellungen erhalten.
Dr. Katharina Reschke
PS: Teil 2|3 aus dieser Reihe geht auf die vielfältigen Ursachen von ADHS ein. Es bleibt also spannend …
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Referenzen
American Psychiatric Association. (2013). Diagnostic and statistical manual of men- tal disorders (5th ed.). Washington, DC: Author.
Döpfner, M., Fröhlich, J. & Lehmkuhl, G. (2013). Aufmerksamkeitsdefizit/ Hyperaktivitätsstörungen (ADHS). Leitfaden Kinder und Jugendpsychotherapie. Göttingen: Hogrefe.
Hoffmann, H. (1845). Der Struwwelpeter. Esslingen am Neckar, Esslinger.
World Health Organization (2022). ICD-11. Classification of Mental and Behavioural Disorders. Clinical Description and Diagnostic Guidelines. Geneva: World Health Organization.
Polanczyk, G., de Lima, M.S., Horta, B.L., Biederman, J. & Rohde, L.A. (2007). The worldwide prevalence of ADHD: A systematic review and metaregression analysis. American Journal of Psychiatry, 164, 942–948.
Polanczyk, G.V., Willcutt, E.G., Salum, G.A., Kieling, C. & Rohde, L.A. (2014). ADHD prevalence estimates across three decades: An updated systematic review and meta-regression analysis. International Journal of Epidemiology 43, 434–442.
Sayal, K., Prasad, V., Daley, D., Ford, T. & Coghill, D. (2018). ADHD in children and young people: Prevalence, care pathways, and service provision. Lancet Psychiatry, 5, 175–186.
Steinhausen, H.C., Döpfner, M., Holtmann, M., Philipsen, A. & Rothenberger, A. (2020). Handbuch ADHS. Grundlagen, Klinik, Therapie und Verlauf der Aufmerksamkeitsdefizit-Hyperaktivitätsstörung. Stuttgart: Kohlhammer.
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