DNA Stränge- symbolisch für erbliche Komponente von ADHS

Modediagnose ADHS – Was wirklich dahintersteckt ( 2 | 3 )

 

Lesezeit: 10-15 Minuten

Teil 2|3:

Ursachen von ADHS

Für die meisten psychischen Störungen wird eine mehrfaktorielle Verursachung angenommen, die zu verschiedenen pathophysiologischen Entstehungspfaden führen kann. Forschungsarbeiten zu den Ursachen von ADHS widmen sich unterschiedlichen Bereichen und es ist anspruchsvoll, die Vielzahl der wissenschaftlichen Befunde zusammenzuführen. Ziel dieses zweiten Blogartikels unserer Reihe zum Thema ADHS ist es, Ihnen einen Überblick zu den wichtigsten Erkenntnissen bezüglich der Ursachen von ADHS zu geben. Da zahlreiche Faktoren bei der Entstehung und Aufrechterhaltung von ADHS beteiligt sind, werden diese anhand der folgenden Kategorien vorgestellt: Genetische Disposition, Toxine, Neurobiologie sowie ungünstige psychosoziale Bedingungen.

Genetische Disposition

Studien konnten zeigen, dass ADHS familiär gehäuft auftritt. Das Risiko an ADHS zu erkranken ist bei erstgradiger Verwandtschaft zwei- bis achtfach erhöht (Mick & Faraone, 2008). Darüber hinaus wurde errechnet, dass 10–35 % der Geschwister und Eltern betroffener Kinder ebenfalls mit ADHS diagnostiziert worden sind (Chen et al., 2008). Auch Adoptionsstudien liefern Hinweise auf genetische Ursachen von ADHS, da biologische Eltern von Kindern mit ADHS deutlich häufiger selbst von ADHS betroffen waren als Adoptiveltern (Sprich et al., 2000).

Insbesondere Zwillingsstudien verdeutlichen die Erblichkeit von ADHS (70-80% der Varianz werden durch genetische Unterschiede erklärt). Dieser Effekt ist annähernd so groß wie die Erblichkeit der Körpergröße und fällt damit deutlich höher aus als die Erblichkeit von Intelligenz (Faraone et al., 2005; Franke et al., 2012). Somit stellt ADHS die psychische Störung dar, die am stärksten durch genetische Faktoren beeinflusst ist. Diese Befunde implizieren, dass eine ADHS nicht allein durch Umwelteinflüsse, wie Erziehungsverhalten, verursacht wird. Gleichwohl bedeuten die Befunde nicht, dass Umwelteinflüsse irrelevant sind. Vielmehr sind Umweltfaktoren nicht unabhängig von der genetischen Disposition, sondern über Gen-Umwelt-Interaktionen an der Entwicklung der ADHS beteiligt (Steinhausen et al., 2020).

Toxine

Darüber hinaus gehen toxische Einflüsse, z. B. während der Schwangerschaft, mit einer späteren ADHS-Erkrankung des Kindes einher (Alkohol-, Nikotin-, Drogenkonsum während der Schwangerschaft). Gleiches gilt für schädliche Faktoren wie Sauerstoffmangel während der Geburt (Max et al., 1998). Bei 23 % der Kinder mit sehr geringem Geburtsgewicht wird im Alter von 12 Jahren die Diagnose ADHS gestellt. Dies ist etwa viermal häufiger der Fall als bei Kindern mit normalem Geburtsgewicht (Botting et al., 1997). Auch Ernährungsfaktoren (z. B. Zucker, Konservierungsstoffe, künstliche Farbstoffe) werden beispielsweise in den Medien oft für die Verschlimmerung von Symptomen verantwortlich gemacht. Dieser Effekt ist laut Metanalysen jedoch eher gering (Nigg et al., 2012).

Neurobiologie

Auf neurobiologischer Ebene sind bei Kindern mit ADHS zahlreiche strukturelle und funktionelle zerebrale Auffälligkeiten nachweisbar. So zeigten sich bei Kindern mit ADHS Auffälligkeiten hinsichtlich der Volumina, der strukturellen Konnektivität und der neurofunktionellen Aktivität. Ebenso zeigten sich  Veränderungen in der Interaktion komplexer Hirnnetzwerke mit drei zentralen Knotenpunkten: Präfrontalkortex, Basalganglien und Kleinhirn. Diese liegen den Leistungsdefiziten der Kinder, einschließlich Probleme bei Inhibition, Aufmerksamkeit, Zeitverarbeitung und Arbeitsgedächtnis höchst wahrscheinlich zugrunde (Steinhausen et al., 2020).

Eine Längsschnittstudie des National Institute of Mental Health (NIMH) konnte zeigen, dass ADHS mit einer verzögerten Hirnentwicklung assoziiert war und das Maximum der kortikalen Dicke und Oberfläche bei ADHS erst 2–5 Jahre später erreicht wurde als bei gesunden Kindern (Shaw et al., 2007). Der primäre motorische Kortex war die einzige kortikale Region, die bei ADHS-Kindern eine frühere Reifung aufwies. Man kann spekulieren, dass insbesondere die Kombination aus frühzeitiger Reifung des primären motorischen Kortex einerseits und die verzögerte Reifung von höheren motorischen Kontrollregionen andererseits die dysfunktionale Regulation der motorischen Aktivität bei ADHS begünstigt (Steinhausen et al., 2020).

Darüber hinaus wird bei ADHS häufig eine Störung des dopaminergen und noradrenergen Transmittersystems festgestellt. Vermutlich wird zu wenig Dopamin ausgeschüttet und/oder zu schnell resorbiert, so dass die Informationsübertragung beeinträchtigt ist. Zudem können Defizite von neuronalen Kontroll- und Aufmerksamkeitssystemen auch eine gemeinsame neurophysiologische Grundlage für Störungen der Aufmerksamkeit und der motorischen Aktivität bilden (Steinhausen et al., 2020). Bei ADHS ist somit nicht nur eine Verarbeitungsstufe oder eine Hirnregion betroffen, sondern es spielen mehrere Faktoren eine Rolle.

Psychosoziale Bedingungen

Im Rahmen einer Analyse von psychosozialen Faktoren als Ursachen von ADHS wurden in der Forschung vor allem sozioökonomische und familiäre Bedingungen und dabei speziell Auffälligkeiten der Eltern-Kind-Interaktion in den Blick genommen.

Sozio-ökonomischer Status

Es zeigte sich beispielsweise in einer für Deutschland repräsentativen Studie zur Kindergesundheit durch das Robert-Koch-Institut (KIGGS-Studie; Döpfner et al., 2008) ein deutlicher Zusammenhang zwischen dem sozio-ökonomischen Status der Eltern und der ADHS der Kinder. Der Anteil der Kinder aus sozial schwächeren Familien, die laut der Eltern die Diagnosekriterien für eine ADHS erfüllten, lag mit über 7% mehr als doppelt so hoch wie der entsprechende Anteil aus Familien mit einem hohen sozioökonomischen Status (Döpfner et al., 2008). Außerdem konnte in der KIGGS-Studie gezeigt werden, dass in den Großstädten mit mehr als 500.000 Einwohnern der Anteil der Kinder mit ADHS-Symptomatik mit 7% ebenfalls mehr als doppelt so hoch wie der Anteil der Kinder aus ländlicher Umgebung liegt (Döpfner et al., 2008).

Eltern-Kind-Interaktion

Zahlreiche Befunde belegen, dass ADHS auch in einem Zusammenhang mit Erziehungsverhalten und speziellen Eltern-Kind-Beziehungsmustern steht (Deault, 2010). In vielen Familien ist eine „Konflikt-Spirale“ anzutreffen. Regeln und Grenzsetzungen der Eltern werden von den Kindern mit ADHS häufig nicht beachtet. Eltern oder andere Bezugspersonen müssen aufgrund dessen ihre Aufforderungen stets mehrfach wiederholen.

Mit hoher Wahrscheinlichkeit werden sich die Kinder auch dann nicht wie gewünscht verhalten. Kommt es aber doch einmal dazu, dass das Kind der Aufforderung der Eltern nachkommt, so wird dies von Eltern oft nicht wahrgenommen. Demnach rückt das unerwünschte Verhalten seitens der Kinder mehr in die Wahrnehmung der Eltern, während ein gewünschtes Verhalten weniger Beachtung findet. Über kurz oder lang geben viele Eltern nach oder reagieren impulsiv, was zu einer Verstärkung der unerwünschten Verhaltensweisen auf Seiten des Kindes führt (Steinhausen et al., 2020).

Hinweise auf den Einfluss psychosozialer Faktoren auf die Ausprägung und den Verlauf von ADHS-Symptomen können ebenso aus Studien zur Wirksamkeit von Interventionen abgeleitet werden. So erwiesen sich beispielsweise Elterntrainings als effektiv, da dadurch nicht nur das Erziehungsverhalten der Eltern positiv beeinflusst werden, sondern auch die ADHS-Symptomatik der Kinder reduziert werden konnte (Hanisch et al., 2014).

Fernsehkonsum

In der Öffentlichkeit wird immer wieder vermutet, dass ein exzessiver Fernsehkonsum negativen Einfluss auf die Konzentrationsfähigkeit habe. Dennoch ist der Einfluss von Medien auf ADHS-Symptome bislang wenig untersucht (Steinhausen et al., 2020). Eine Studie aus den USA konnten zeigen, dass der Fernsehkonsum im Alter von einem bis zu drei Jahren mit einer von den Müttern geschilderten Aufmerksamkeitsschwäche im Alter von sieben Jahren in Verbindung standen (Christakis et al., 2004).

Den Autoren zufolge würde für ein Kind, das im Alter von drei Jahren überdurchschnittlich viel fernsieht, das Risiko Unaufmerksamkeitssymptome zu entwickeln, um 30 % zunehmen. In einer national repräsentativen Befragung in den USA konnte ein erhöhtes Risiko für die Diagnose einer ADHS bei Kindern und Jugendlichen festgestellt werden, die in erhöhtem Maße Fernsehen konsumierten und Computer benutzten (Lingineni et al., 2012).

Fazit

Zusammenfassend scheinen genetische Faktoren den Hauptanteil bei der Verursachung von ADHS auszumachen, während erworbene biologische Faktoren und psychosoziale Faktoren eher eine untergeordnete Rolle spielen. Dabei gilt es jedoch zu berücksichtigen, dass vor allem eine Interaktion zwischen genetischen und umweltbezogenen Faktoren bedeutsam ist. Psychosoziale Bedingungen bilden wahrscheinlich keinen Hauptfaktor für die Entwicklung von ADHS, moderieren aber  wohl die Stärke und den Verlauf der Symptomatik sowie die Entwicklung komorbider Symptome (Steinhausen et al., 2020).

Dr. Katharina Reschke

PS: Teil 3|3 aus dieser Reihe beschreibt moderne Therapiemöglichkeiten bei ADHS. Es geht also darum, wie man von ADHS betroffene Kinder so gut wie möglich unterstützen kann.

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Referenzen 

Botting, N., Powls, A., Cooke, R. W. & Marlow, N. (1997). Attention deficit hyperactivity disorders and other psychiatric outcomes in very low birthweight children at 12 years. Journal of child psychology and psychiatry, and allied disciplines, 38, 931–941.

Chen, W., Zhou, K., Sham, P., Franke, B., Kuntsi, J. & Campbell, D. (2008). DSM-IV combined type ADHD shows familial association with sibling trait scores: A sampling strategy for QTL linkage. American Journal of Medical Genetics, 147B, 1450–60.

Christakis, D. A., Zimmerman, F. J., DiGiuseppe, D. L. & McCarty, C. A. (2004). Early television exposure and subsequent attentional problems in children. Pediatrics, 113, 708–713.

Deault, L. C. (2010). A systematic review of parenting in relation to the development of comorbidities and functional impairments in children with attention deficit/ hyperactivity disorder (ADHD). Child Psychiatry & Human Development, 41, 168–192.

Döpfner, M., Breuer, D., Wille, N., Erhart, M., Ravens-Sieberer, U. & BELLA Study Group. (2008). How often do children meet ICD-10/ DSM-IV criteria of Attention Deficit-/Hyperactivity Disorder and Hyperkinetic Disorder? Parent based prevalence rates in a national sample-resutls of the BELLA study. European Child and Adolescent Psychiatry, 17, 59–70.

Faraone, S. V., Perlis, R. H., Doyle, A. E., Smoller, J. W., Goralnick, J. J. & Holmgren, M. A. (2005). Molecular genetics of attention-deficit/hyperactivity disorder. Biological Psychiatry, 57, 1313–1323.

Franke, B., Faraone, S. V., Asherson, P. & Buitelaar, J. (2012). The genetics of attention deficit/hyper-activity disorder in adults, a review. Molecular Psychiatry, 17, 960–987.

Hanisch, C., Hautmann, C., Plück, J., Eichelberger, I. & Döpfner, M. (2014). The prevention program for externalizing problem behavior (PEP) improves child behaviour by reducing negative parenting: Analysis of mediating processes in a randomized controlled trial. Journal of Child Psychology and Psychiatry, 55, 473–484.

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Sprich, S., Biederman, J., Crawford, M. H., Mundy, E. & Faraone, S. V. (2000). Adoptive and biological families of children and adolescents with ADHD. Journal of the American Academy of Child and Adolescent Psychiatry, 39, 1432–1437.

Steinhausen, H. C., Döpfner, M., Holtmann, M., Philipsen, A. & Rothenberger, A. (2020). Handbuch ADHS. Grundlagen, Klinik, Therapie und Verlauf der Aufmerksamkeitsdefizit-Hyperaktivitätsstörung . Stuttgart: Kohlhammer.